Interview mit einem Tamilischen geflüchteten aus Sri-Lanka

Herkunft und Kindheit

Mein Name ist Sivananthan Kandiah. Ich wurde am 20. März 1971 in Tellippalai in der Nordprovinz Sri Lankas geboren und bin dort aufgewachsen. Meine Kindheit vor dem Krieg war geprägt von Schule, Familie und einem weitgehend normalen Alltag. Schon in jungen Jahren spürte ich die Spannungen zwischen Tamilen und Singhalesen, die sich unter anderem im Sinhala-Only Act äusserten. Dieser führte dazu, dass Tamilen nur bei sehr hohen Punktzahlen Zugang zu Universitäten erhielten, während für Singhalesen andere Massstäbe galten. In meiner Umgebung lebten kaum Singhalesen, da diese vorwiegend wegen der Arbeit, etwa in Bäckereien, in den Norden kamen.

Erste Konflikte und Kriegsbeginn

Mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs veränderte sich unser Leben schlagartig. Wir lebten in ständiger Angst und versteckten uns oft in unseren Häusern und Dörfern, da nachts sämtliche Lichter gelöscht wurden, um den Hubschraubern der srilankischen Armee zu entgehen. Obwohl ich mich nicht an den Black July erinnern kann, weil ich damals noch zu jung war, weiss ich, dass die Armee in meinem Heimatort Menschen erschoss. Besonders in Colombo, wo Tamilen und Singhalesen zusammenlebten, eskalierte die Gewalt.
Zudem wurde Tellippalai aufgrund seiner Nähe zu wichtigen militärischen Einrichtungen, wie dem Palaly-Flughafen und dem KKS-Hafen, die alle innerhalb eines 5-Kilometer-Radius lagen, zu einem bedeutenden Kriegsgebiet.

Persönliche Erlebnisse und die Entscheidung zur Flucht

Die Kriegsjahre waren von unvorstellbaren Erlebnissen geprägt. Einer meiner tiefsten Erinnerungen stammt aus dem Jahr 1989: Ich war mit meinen Cousins und Freunden unterwegs, als einer von ihnen von der indischen Armee gepackt und erschossen wurde, weil er den gleichen Namen wie Prabhakaran hatte. Auch die Zeiten, in denen wir uns in Gräben versteckten, während die srilankische Armee Raketen abfeuerte, sind mir unvergesslich.
Obwohl viele meiner Freunde und Familienmitglieder sich der LTTE anschlossen und in den Krieg zogen, was damals fast als normal galt, dachte auch ich über einen Beitritt nach. Doch als ich 18 Jahre alt war, traf ich die schwierige Entscheidung, Sri Lanka zu verlassen.
Der ausschlaggebende Moment war der Tod meines Cousins durch die indische Armee. Meine Eltern hatten bereits vieles für mich vorbereitet, und ich nahm nur meinen Ausweis sowie meine Geburtsurkunde mit. Meine grösste Angst war es, meine Eltern nie wiederzusehen, und die Sorge, auf dem Weg nach Colombo, wo Menschen häufig lange festgehalten wurden, in Schwierigkeiten zu geraten, lastete schwer auf mir. Die grösste Herausforderung während der Flucht war es, Colombo zu erreichen und rechtzeitig ins Flugzeug zu steigen.

Die lange Reise in die Schweiz und Integration

Nach Sri Lanka führte meine Flucht über das damalige Jugoslawien und Italien in die Schweiz. Die Reise war langwierig und voller Unsicherheiten, ich fürchtete, die Flucht nicht zu überstehen oder nach Sri Lanka zurückgeschickt zu werden.
Das Leben in der Schweiz stellte einen kompletten Neuanfang dar: Neue Menschen, mehr Sicherheit, aber auch eine gewisse Angst vor dem Unbekannten. Die herzliche Aufnahme durch die bereits ansässige tamilische Gemeinschaft half mir, mich in der neuen Umgebung zu integrieren, obwohl die Anpassung an die Schweizer Kultur und Sprache zu Beginn sehr schwierig war.

Kriegserinnerungen und deren Nachwirkungen

Ich hätte nie gedacht, in der Schweiz ein so gutes Leben führen zu können, mit eigener Familie und stabilen Lebensverhältnissen. Ursprünglich hatte ich gehofft, nach etwa zwei Jahren zurückkehren zu können, um meine Familie zu besuchen. Heute leben viele meiner Verwandten und Freunde im Ausland (Schweiz, Frankreich, Niederlande usw.) und unterstützen auch die in Sri Lanka verbliebene Familie, die regelmässig Hilfe erhält.
Jedes Jahr feiern wir am 27. November den Maveerar Naal, um der gefallenen LTTE-Kämpfer zu gedenken. Dieser Tag, der auch mit dem Geburtstag unseres Helden und Anführers Velupillai Prabhakaran verbunden ist, der am 26. November gefeiert wird und der im November 2024 seinen 70. Geburtstag erreicht hätte, steht für die Erinnerung an den Einsatz und das Opfer vieler Tamilen. In Sri Lanka ist es jedoch äusserst schwierig, solche Veranstaltungen zu organisieren, da die Regierung streng gegen LTTE und verwandte Organisationen vorgeht.

Der Krieg und der Blick in die Zukunft

Als der Krieg 2009 endete, empfand ich tiefe Trauer. Nicht nur wegen der vielen unschuldigen Zivilisten, die durch den Einsatz verbotener Raketen ums Leben kamen, sondern auch, weil der Konflikt, besonders in Orten wie Mullivaikal (bekannt als „The Cage“ in den letzten Kriegstagen), nie als Völkermord anerkannt wurde. Der Tod von Velupillai Prabhakaran war ein schwerer Schlag für die tamilische Gemeinschaft, denn er war ein Symbol des unermüdlichen Kampfes und der Hoffnung.
Es schmerzt, dass unsere Situation so oft missverstanden wurde und uns keine internationale Hilfe zuteilwurde. Im letzten Krieg verloren mehr als 100.000 Menschen ihr Leben. Trotz der Friedensgespräche, in denen auch die Schweiz als Beispiel für eine föderale Lösung herangezogen wurde, scheiterte der Versuch, da die Tamilen einen eigenen Staat, Tamil Eelam, anstrebten, während die srilankische Regierung anderer Meinung war.
Ich bin jedoch zufrieden mit der Entscheidung, damals die Flucht anzutreten. Einige Jahre nach meinem Weggang wurde Tellippalai zu einem der bedeutendsten Kriegsgebiete, und viele Menschen mussten über Jahrzehnte hinweg ihre Heimat verlassen. Erst nach Kriegsende kehrten sie zurück, um ihre zerstörten Häuser wieder aufzubauen.
Die Verbindung zu Sri Lanka ist heute kompliziert, da das Land überwiegend von Singhalesen kontrolliert wird und Tamilen weiterhin unterdrückt werden. Besonders für tamilische Journalisten ist das Leben dort mit grossen Risiken verbunden.
Ich hoffe von Herzen, dass eines Tages alle Tamilen in Sri Lanka in Frieden leben können ohne Krieg und in dem Wissen, dass Familie und Zusammenhalt über alle Widrigkeiten hinaus Bestand haben. Ich möchte der nächsten Generation die Bedeutung von Frieden und Solidarität vermitteln und dafür sorgen, dass aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt wird, um eine bessere Zukunft zu gestalten.